Am Ball

Einige der besten Athleten bei den US Open schwingen nie einen Tennisschläger. Wie Scott Christian herausfand, werden Beweglichkeit, Enthusiasmus und ein starker Arm benötigt, um in das Team der Ballkinder für die US Open aufgenommen zu werden

Wie kleine grüne Raketen rasen in blitzschneller Abfolge drei Tennisbälle über die Köpfe hinweg. Der erste Ball streift im Sinkflug fast den hüfthohen Maschendrahtzaun von Court 11, landet knapp vor der Tribüne, jagt dahin und bleibt schließlich mitten auf dem Gehweg des USTA Billie Jean King National Tennis Centers liegen. Der zweite Ball fegt über den Zaun hinweg und landet unter einer weit entfernten Hecke. Und der dritte? Sagen wir’s mal so: Wenn Teenager beim Ballwurf mehr Kraft als Präzision zeigen, sollte man ein wachsames Auge haben – eine Lektion, die eine Fotografin auf schmerzliche Weise erfahren musste. Die verbleibenden Tryouts der US Open wird sie damit verbringen, ihre Beule an der Stirn zu pflegen.

Natürlich ist Treffsicherheit nur eine der vielen Eigenschaften, auf die Cathie Delaney, stellvertretende Direktorin für das Ballkinderprogramm der US Open, achtet. Seit ungefähr 25 Jahren arbeitet sie mit Tina Taps, Direktorin für das Ballkinderprogramm der US Open, zusammen. Jeden Juni nehmen etwa 400 Ballkind-Anwärter an der Auswahl teil: Auf sieben Spielfeldern des USTA Billie Jean King National Tennis Centers in Flushing, Queens, New York, werden sie unter simulierten Bedingungen eines professionellen Tennisturniers gedrillt, zu sprinten, Bälle zu rollen und einzusammeln. In der ersten Runde werden die Kandidaten von erfahrenen Ballkindern, die von Delaney und Taps bestimmt wurden, bewertet. Insgesamt gibt es zwei Runden und ein Interview.

Nachdem die Presseleute ihre Chance hatten, dem Spektakel schwitzend und schnaufend beizuwohnen, finden anschließend die eigentlichen Tryouts am Spätnachmittag statt. Zuerst werden die versammelten Kandidaten auf Court 11, der im Schatten des legendären Arthur-Ashe-Stadions liegt, eingewiesen. Im Anschluss schwärmen sie in ihren blauen T-Shirts auf sechs weitere naheliegende Spielfelder aus. Damit beginnt auch das offizielle Auswahlverfahren, dessen kinetische Hitze den ohnehin schon heißen Nachmittag im Juni zusätzlich aufheizt. Bei den verschiedenen Tests stellen die potentiellen Ballkinder ihre Fähigkeiten unter Beweis, mit dem Ziel, entweder am Netz oder hinter der Grundlinie eingesetzt zu werden. Manche werden aber beides machen.

Die Uniform für die Ballkinder der 2019 US Open besteht aus Performance-Garnen, die aus recycelten Kunststoffflaschen hergestellt werden – ein Beitrag zu Ralph Laurens globalem Ziel, bis 2025 170 Millionen Flaschen zu recyceln
Die Uniform für die Ballkinder der 2019 US Open besteht aus Performance-Garnen, die aus recycelten Kunststoffflaschen hergestellt werden – ein Beitrag zu Ralph Laurens globalem Ziel, bis 2025 170 Millionen Flaschen zu recyceln
Schließlich ist das Ziel eines Ballkinds, „ein wesentlicher, aber unsichtbarer“

Es ist keine Überraschung, dass die Tryouts für fast alle nervenaufreibend sind. Für diejenigen, die in der Schule immer gut im Sport waren, mag das nach süßem nostalgischem Ambrosia klingen, der Rest wird wohl eher das Gefühl haben, einen großen Schluck aus dem Schierlingsbecher gereicht zu bekommen. Obwohl Delaney eine Frohnatur ist und ihren Job offensichtlich liebt, ist sie dennoch eine Trainerin und erinnert etwas an einen Feldwebel. Und wie bei jedem guten Trainer ist diese Autorität erforderlich, denn ihre Schützlinge streben immer danach, sie zu beeindrucken. Auch wenn sie an der ersten Bewertungsrunde nicht teilnimmt – das überlässt sie den Betreuern, die auch Bälle werfen und allgemein für einen reibungslosen Ablauf sorgen – fallen ihr schon herausragende Kandidaten auf.

Diejenigen, die sich für beide Positionen qualifizieren möchten, stehen zunächst am Netz und dann hinter der Grundlinie oder umgekehrt. Die Position am Netz erfordert, hin und her zu sprinten, Bälle einzusammeln und sie wieder treffsicher zurück zur Grundlinie zu rollen. Dieser Job erfordert Beweglichkeit, eine ausgezeichnete Auge-Hand-Koordination und einen starken unteren Rücken, da man über längere Zeit gebückt ist. Der Einsatz hinter der Grundlinie bedeutet, ständig zu fangen und zu rollen. Hier sieht das Testverfahren vor allem vor, dem Ballkind hinter der Grundlinie auf der anderen Seite drei Bälle in schneller Abfolge über den Court zuzurollen. Der Ball muss zielsicher ankommen (ohne Unbeteiligte zu treffen). Die Empfänger müssen die Bälle einsammeln.

Was den Rest der Tryouts betrifft – innerhalb von 15 Minuten nach Beginn bewegt sich das gesamte Tennis Center in einem organisierten Chaos. Die Teenager, die das Auswahlverfahren hinter sich gebracht haben, unterhalten sich auf den Gehwegen und Tribünen über ihre Erfolge und Misserfolge. Langsam türmen sich kleine Tennisballberge in den Ecken der Spielfelder auf – stumme Zeugen von Fehltritten und -fängen. Die zusätzliche Ablenkung wird ganz gern gesehen, da sie die Hektik eines echten Turniers gut simuliert. Unter Stress ruhig und gelassen zu bleiben, ist eine wichtige Eigenschaft für jedes erfolgreiche Ballkind. Delaney möchte sichergehen, dass ihre Neulinge bei einem offiziellen Turnier im Augenblick des ersten Aufschlags nicht erstarren. „Ich habe Kinder erlebt, die meinten, sich mit Tennis auszukennen, und die plötzlich erstarrt sind“, erzählt sie. „Wie Rehe im Scheinwerferlicht.“

Rechts oben: Einsatzbereit – Balljungen bei den 2012 US Open
Rechts oben: Einsatzbereit – Balljungen bei den 2012 US Open

Schließlich ist das Ziel eines Ballkinds, „ein wesentlicher, aber unsichtbarer“ Bestandteil zu sein, sagt Dorian Waring, der über 20 Jahre Balljunge war und jetzt Betreuer sowohl bei den Tryouts als auch beim Turnier ist. Diese Tradition geht auf die ersten Balljungen zurück, die bei den Meisterschaften in Wimbledon in den 1920ern zum ersten Mal eingesetzt wurden. Davor mussten Tennisspieler ihre Bälle selbst einsammeln, was das Spiel verzögerte. Um das Spiel zu beschleunigen, rekrutierten die Organisatoren von Wimbledon Jungen aus „Shaftesbury Homes and Arethusa“, einer Wohltätigkeitsorganisation, die damals Internate für arme Kinder betrieb. Die Idee bestand darin, dass sechs im Hintergrund agierende Jungen für einen reibungslosen Spielverlauf sorgten. Das funktionierte so gut, dass der Rest der Grand-Slam-Turniere diese Idee aufnahm.

Auch heute noch zählt man bei den US Open auf eine sechsköpfige Crew, die sich um die Tennisbälle kümmert. Zwei davon arbeiten am Netz und vier an der Grundlinie. Aber am allerwichtigsten ist es, bei diesem Job möglichst unsichtbar zu bleiben. „Der schlimmste Moment für jedes Ballkind ist der Schiedsrichter-Ausruf ,Bitte warten‘“, sagt die 25-jährige Wendy Baum. Das erfahrene Ballmädchen beaufsichtigt die US Open und arbeitet gelegentlich selbst noch bei Spielen. „Genau“, stimmt Waring zu, „diesen Fehler machst du einmal und nie wieder.“

Laut dem Guinness-Buch der Rekorde war der älteste Balljunge auf dem Spielfeld einer wichtigen Tennismeisterschaft Manny Hershkowitz, der 1999 bei den US Open im zarten Alter von 82 arbeitete. Die meisten Anwärter bei den Tryouts sind jedoch Teenager. Das Mindestalter bei den US Open liegt bei 14, und viele der Kandidaten, aber nicht alle, sind ungefähr 16 Jahre alt. Erica Vercessi, die dieses Jahr 14 wurde, nimmt zum ersten Mal an den Tryouts teil, nachdem sie ihrem Bruder drei Jahre lang beim Ballwerfen zugeschaut hat. Auch wenn sie sich gut in die typische Demografie einfügt, ist ihre Vorbereitungsmethode eher ungewöhnlich: Sie schaute sich ein Late Night Video des früheren Show-Hosts Jimmy Fallon bei seinem Tryout von 2009 an.

Für manche aber gehört die Tätigkeit eines Ballkinds zu den Dingen, die man einfach einmal gemacht haben sollte. So entschied sich James Lisa im Alter von 28, drei Jahre nachdem er von Delaware nach New York gezogen war, an den Tryouts teilzunehmen. „Ich wollte das immer schon mal machen“, sagt er und wirkt eher wie der Vater eines Ballkind-Anwärters. Aber genau das ist ja das Großartige am Ballkind-Sein: Das Alter spielt nicht so eine große Rolle wie Begeisterung und Können. „Wir suchen nach Leuten, die Tennis lieben“, sagt Delaney. „Aber wir wollen auch Leute, die enthusiastisch sind und Teil dieses großen Ereignisses sein möchten.“

Scott Christian ist Journalist im Bereich Kultur und Lifestyle, dessen Arbeiten bereits in Magazinen wie Esquire, The Guardian, GQ und Glamour veröffentlicht wurden. Er lebt momentan in New York City.
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